Das wahre Verbrechen ist das Grenzregime:
Freiheit für Die #Samos2
Das wahre Verbrechen ist das Grenzregime - Freiheit für N.* & Hasan
Nach Schiffsunglück: Überlebendem drohen 230 Jahre Haft, weil er das Boot gesteuert hat und Vater wird für den Tod seines 6-jährigen Kindes angeklagt.
Auf den griechischen Inseln eskaliert die Politik der Abschreckung von Geflüchteten: in einem bisher beispiellosen Akt der Kriminalisierung
wird erstmals in der EU ein junger
Vater, N., für den Tod seines Kindes auf der Flucht angeklagt. Er steht
zusammen mit seinem Mitreisenden Hasan vor Gericht, dem eine lebenslange
Haftstrafe droht, weil er das Boot gesteuert hat – eine gängige Praxis der
Kriminalisierung von Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen.
In der Nacht des 07. November 2020 versuchten N. und Hasan zusammen mit 22 anderen Personen auf einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Unter den Passagieren befanden sich N.'s 6-jähriger Sohn sowie die Schwester, der Bruder und die gehbehinderte Mutter von Hasan. Die Familien waren aus Afghanistan geflohen und auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben in Europa.
Vor der griechischen Insel Samos geriet das Boot in Seenot, stieß gegen die Klippen und kenterte. Alle Bootsinsassen gingen über Bord. Obwohl die griechische Küstenwache über den Notfall informiert wurde, dauerte es mehrere Stunden, bis sie vor Ort eintraf. Sie führten jedoch keine Rettungsmaßnahmen durch. Überlebende sagten aus, dass sie zweimal ein Boot der Küstenwache näher kommen sahen, sie jedoch nicht gerettet wurden. In den Morgenstunden des nächsten Tages wurden N.s kleiner Junge und eine im neunten Monat schwangere Frau auf den Felsen gefunden. Glücklicherweise überlebte die Frau und brachte drei Tage später ihr Kind zur Welt. Für den Sohn von N. kam jede Hilfe zu spät.
Ungeachtet dessen, dass er gerade sein Kind verloren und selbst nur knapp überlebt hatte, wurde der 25-jährige N. verhaftet. Erst, nachdem sein Anwalt und der UNHCR wiederholt auf die Polizei eingewirkt hatten, durfte N. seinen Sohn sehen und dessen leblosen Körper identifizieren. Er wurde in Untersuchungshaft gebracht und als erster Asylsuchender wegen "Kindeswohlgefährdung" angeklagt, wofür ihm bis zu zehn Jahre Haft drohen.
N.: "Sie waren einfach grausam zu mir. Ich habe meinen Sohn verloren. Er ist im Wasser ertrunken. Damit nicht genug, haben sie mich in dieser schrecklichen Situation auch noch verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Sie sagen, das sei das Gesetz. Das kann nicht das Gesetz sein. Das ist unmenschlich. Das muss illegal sein. Wollen sie mich wirklich für den Tod meines Sohnes verantwortlich machen? Er war alles, was ich hatte. Ich bin eigentlich nur wegen meinem Sohn hierher gekommen."
Dimitris Choulis, Rechtsanwalt: "In Griechenland im Jahr 2020, in einer Zeit, einer Politik der systematischen Push-Backs, schaffen wir noch ein weiteres Hindernis für Schutzsuchende: Selbst wenn du es hierher schaffen solltest, werden wir dich kriminalisieren. Was kann man als Asylbewerber*in tun? Hierher reisen und das Kind bis zum Ende des Verfahrens in der Türkei allein zurücklassen?”
Auch der 23-jährige Hasan wurde verhaftet, weil er angab, das Boot für einen Teil der Strecke gesteuert zu haben. Ihm wird deshalb der "unerlaubte Transport von Drittstaatsangehörigen in griechisches Hoheitsgebiet" (Schmuggel) vorgeworfen, mit den erschwerenden Umständen der "Gefährdung des Lebens von 23 Personen" und der "Verschuldung des Todes von einer Person" - N.s Sohn. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe für den Tod einer Person plus weitere 10 Jahre Haft für jede transportierte Person, folglich insgesamt 230 Jahre plus lebenslang.
Während N.s Fall der erste seiner Art ist, ist die gegen Hasan erhobene Anklage wegen “Schmuggel” kein Einzelfall, sondern paradigmatisch für eine weitere Facette europäischer Abschottungspolitik. Wie von CPT - Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentiert, stellen derartige Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommende Menschen seit Jahren eine systematische Praxis der Kriminalisierung dar. Grundlage dafür ist die griechische Gesetzgebung, nach der jede Person, die Fahrer*in eines Gefährts ist, mithilfe dessen Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere nach Griechenland einreisen, eine Straftat begeht - selbst wenn die Person selbst Schutz sucht. So verhaftet die griechische Küstenwache per ankommenden Boot ein bis zwei Menschen und schickt somit Hunderte von Schutzsuchenden direkt vom Boot ins Gefängnis.
Während europäische Seenotretter*innen und Aktivist*innen viel Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie zur Zielscheibe von Kriminalisierung werden, bleibt die alltägliche Praxis der Inhaftierung von Nichteuropäer*innen, die mit denselben Vorwürfen konfrontiert sind, fast unbemerkt. Sie bilden jedoch die Mehrheit derjenigen, die wegen "Beihilfe zur unerlaubten Einreise" alias "Schmuggel" festgenommen und inhaftiert werden. Die meisten werden unmittelbar nach ihrer Ankunft verhaftet und haben keinen Zugang zu einem angemessenen Rechtsbeistand, geschweige denn zu Unterstützung von außen. In Griechenland wird "Schmuggel" härter bestraft als Mord, was dazu führt, dass Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit nach Europa kommen, dort für Jahrzehnte hinter Gittern landen.
Die Anklagen werden erhoben, obwohl die europäische Politik der geschlossenen Grenzen Menschen keine andere Wahl lässt, als sich auf lebensgefährliche Routen und in die Abhängigkeit Dritter zu begeben, die ihnen bei der Überfahrt helfen. Ohne sichere und legale Einreisewege sind sogenannte "Schmuggler" oft sogar die einzige Möglichkeit für Menschen, in Sicherheit zu gelangen. Schutzsuchende selbst wegen "Schmuggels" zu kriminalisieren stellt jedoch einen direkte Angriff auf das Recht auf Asyl dar.
Dimitris Choulis, Rechtsanwalt: "Wir kriminalisieren damit Asylsuchende, die keine Alternative haben. Es gibt einen Abschnitt der Reise, in der das einzige, was sie tun können ist, das Boot zu steuern, um ihr Leben zu retten."
Hasan: "Wir sind nur Migranten, und wenn die Migranten kommen wollen, werden die Schmuggler nicht mitkommen. Sie werden die Migranten zwingen, das Boot selbst ans Ziel zu bringen, ganz egal ob diese wissen, wie man ein Boot fährt oder nicht."
Hasan wurde angeklagt, obwohl andere Passagiere, darunter N., erklärten, Hasan habe das Steuer übernommen, schlichtweg weil jemand es musste. "Hasan trug seine gelähmte Mutter auf dem Rücken, als wir in das Boot stiegen", erinnert sich Ibrahim, einer der Überlebenden. N. betont, dass er nicht Hasan die Schuld am Tod seines Kindes gibt, sondern der Tatsache, dass sie keine andere Wahl hatten, als die gefährliche Reise anzutreten.
N.: "Egal wie oft sie es wiederholen, den ‘Fahrer’ trifft keine Schuld. Er ist nur ein Migrant und seine Familie war auch da, er hat nichts falsch gemacht, er ist nicht schuld. Ich habe nur eine Bitte, ich möchte, dass diese Person freigelassen wird."
Stattdessen hat N. am 23. März 2021 die griechische Küstenwache verklagt, weil sie die Rettung verzögert und keine Hilfe geleistet, und damit den Tod von N.s Sohn verschuldet hat. Auf dem Grabstein seines Sohnes steht zu lesen: "Es war nicht das Meer, es war nicht der Wind, es ist die Politik und die Angst."
Der Schiffbruch vom 7. November 2020 und der Tod von N.s Sohn waren weder die Schuld von N. und Hasan, noch war es eine unglückliche Tragödie. Sie sind das unmittelbare Ergebnis der zunehmenden Abschottungspolitik der EU, die den Menschen keine andere Wahl lässt, als ihr Leben und das ihrer Familien auf immer lebensgefährlicheren Reisen zu riskieren. N. und Hasan werden zum Sündenbock gemacht, um von der Verantwortung der EU für diese Todesfälle abzulenken und die Schuld auf diejenigen zu schieben, die bereits am meisten leiden.
In ihrem Versuch, Menschen mit allen Mitteln davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, greift die EU zu immer grausameren und absurderen Maßnahmen.
Hasan: "Das muss aufhören. Ich muss mich um meine Familie kümmern, denn meine Mutter ist gelähmt, ich habe außerdem eine sehr junge Schwester und mein Bruder hat psychische Probleme. Ich muss wirklich bei ihnen sein. Ich bin der einzige, der sich um sie kümmert. Und jetzt, wegen dieser Bootsfahrergeschichte, weiß ich nicht, was ich tun soll."
Wir fordern:
Unterzeichner:innen
Abolish Frontex
Adopt a Revolution
Aegean Migrant Solidarity
Agir pour la Paix
Αντιρατσιστική Πρωτοβουλία Θεσσαλονίκης (Antiracist Initiative Thessaloniki)
Antiracist Initiative Larissa
Αντιρατσιστικό Παρατηρητήριο Πανεπιστημίου Αιγαίου (Antiracist Observatory of the University of the Aegean)
ARSIS – Association for the Social Support of Youth, Mr. Kyrmanidis
ASGI – Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione
Στέκι Μεταναστών Αθήνας (Athens Migrant Center)
Baobab Experience
Border Violence Monitoring Network
Bündnis gegen Abschiebungen Münster
Balkanbrücke – Für grenzenlose Solidarität und sichere Fluchtrouten
Blacks and Whites – Together for Human Rights
borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen
Campaign #stoppushbacks - Greece
Centre for Peace Studies, Croatia
Choose Love
Deport Racism / Sunday School of Migrants Athens
Entre Murs Entre Monde
Europe Must Act
FAIR
Flüchtlingsrat Niedersachsen
Flüchtlingsrat Sachsen
Πρωτοβουλία Ηρακλείου για Πρόσφυγες/Μετανάστες (Heraklion Initiative for Refugees/Migrants)
Χιακή Συμπολιτεία, δημοτική παράταξη Χίος (Hakiakia Sympolitia, Chios)
HIAS Ελλάδος (HIAS Greece)
I have rights
Κίνηση για τα Ανθρώπινα Δικαιώματα – Αλληλεγγύη στους Πρόσφυγες, Σάμος (Initiative for Human Rights – Solidarity to Migrants, Samos)
Πρωτοβουλία Ηρακλείου για τους Πρόσφυγες/Μετανάστες (Initiative for Migrants/Refugees of Herakleio Crete)
Κίνηση για την Υπεράσπιση Προσφύγων και Μεταναστών Πάτρας (Initiative of Support to Refugee and Migrants Patras)
Iuventa Crew
Just Action, Samos
Kritnet – Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung
Επιτροπή Στήριξης Προσφύγων Λαυρίου (Lavrio Refugee Support Committee)
LeaveNoOneBehind
Legal Centre Lesvos
Lungo la Rotta Balcanica – Along the Balkan Route
Mare Liberum
Migration Control Project
Migrant Social Centre Athens (Στέκι Μεντανστ(ρι)ών Αθήνας)
Migrantifa Berlin
Migreurop
Κίνηση "Απελάστε τον Ρατσισμό" / Movement "Stop Racism“
Κίνηση για τα Ανθρώπινα Δικαιώματα – Αλληλεγγύη στους Πρόσφυγες (Movement for Human Rights – Solidarity with Refugees)
Δίκτυο για το Πολιτικά και Κοινωνικά Δικαιώματα (Network for Political and Social Rights)
Δίκτυο Κοινωνικής Υποστήριξης Προσφύγων και Μεταναστών – Network for the Social Support of Refugees and Migrants
ΟΔΥΣΣΕΒΑΧ, Αυτοδιαχειριζόμενο Κέντρο Κοινότητας στα Ιωάννινα (ODYSSEVAX, self-managed Community Centre Ioannina)
PICUM – Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants
Πίσω Θρανία (Piso Thrania)
Δίκτυο Πολιτών Πρέβεζας Ενάντια στην Ξενοφοβία και το Ρατσισμό (Preveza' Citizens Centre Against Xenophobia and Racism)
Pro Asyl
Progetto Melting Pot Europa
Ramona Lenz, Medico International
Refugee Legal Support
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein
ResQship
Samos Advocacy Collective
Samos Volunteers
Sara Mardini & Seán Binder, #FreeHumanitarians
Sea-Watch
Seebrücke
Seebrücke Mainz
Κοινωνική κουζίνα Εl Chef (Social Kitchen El Chef)
Κοινωνικός Χώρος Αντίβαρο, Χίος (Social Space Antivaro, Chios)
Solidarité sans frontières
Statewatch
Still I Rise
Η Ένωση Δικηγόρων για την Υπεράσπιση των Θεμελιωδών Δικαιωμάτω (The Association of Lawyers for the Defence of Fundamental Rights, Greek Section of European Democratic Lawyers)
UNITED for Intercultural Action
Watch The Med Alarmphone
Women in Exile
You Can’t Evict Solidarity – Anti-repression campaign
Ergänzende Hinweise:
- Die Version der Küstenwache wirft noch mehr Fragen auf. Nach Aussagen des Leiters der Küstenwache wurde die schwangere Frau um 3 Uhr morgens und N.s Sohn um 6 Uhr morgens gerettet. Im offiziellen Bericht der Küstenwache steht jedoch, dass sie um 9.30 Uhr in den Hafen von Vathy gebracht wurden. Außerdem datiert die offizielle Autopsie, die Tage später durchgeführt wurde, den offiziellen Todeszeitpunkt des Kindes auf genau 21 Minuten vor dem Eingang des Notrufs, was die Küstenwache entlastet. Einem vom Anwalt in Auftrag gegebenen Gutachten zufolge lässt sich ein solch genauer Todeszeitpunkt jedoch nicht feststellen, insbesondere nicht Tage später.
- Laut offiziellen Angaben des griechischen Justizministeriums stellen Personen, die wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” verurteilt wurden, die zweitgrößte Gruppe in griechischen Gefängnissen dar (Stand: 2019).
- Im Mai 2021 wurde Mohamad H. zu 142 Jahren verurteilt. Im April wurde Khaled S. zu 52 Jahren verurteilt.
*Es ist N.'s Wunsch, dass sein Name und der seines Sohnes nicht veröffentlicht werden.
Wir bitten Journalist:innen und andere, die über diesen Fall berichten, diesen Wunsch zu respektieren.